Premiere
lieber sterben
Ein Stück für Asyl
5. Mai 2010
Theater an der Universität Regensburg
Besetzung
Sprecher | Kilian Hansen |
Sprecherin | Swantje Mikara |
Violine | Anja Spitzer |
Klarinette | Angelika Frey |
Kontrabaß | Peter Pflaum |
Percussion | Matthias Lagleder |
Gitarre | Kurt Raster |
Akkordeon | Michael Brunnbauer |
Text und Musik | Kurt Raster |
Presseinfo
lieber sterben
Ein Stück für Asyl - Szenische Lesung und Musik
Das neue Bühnenstück des ueTheaters „lieber sterben“ entstand auf Anregung von BI Asyl. Es erzählt in Tagebuchform die authentische Geschichte einer Roma-Familie, die vor Pogromen aus dem Kosovo flüchtet und unter dramatischen, aber leider allzualltäglichen Umständen, von deutschen Behörden abgeschoben wird. Ein Sprecher stellt allgemeine Bezüge zur Flüchtlingsproblematik her. Die Lesung wird von einer sechsköpfige Musikgruppe mit Stücken in folkloristischem Balkanstil aufgelockert. Im Anschluß stellen sich Theaterleute und Vertreter/innen der örtlichen Asylgruppen BI Asyl, des Regensburger Flüchtlingsforums und des Arbeitskreises Asyl von Amnesty International für eine Podiumsdiskussion zur Verfügung. Asylbewerber haben freien Eintritt. Der Erlös der Veranstaltung wird Pro Asyl gespendet.
Der Fall der abgeschobenen Roma-Familie ist deshalb besonders gravierend, weil Deutschland bezüglich Roma eine zweifache Schuld trägt. 500 000 Sinti und Roma wurden von den Nationalsozialisten ermordet, vermutlich die Hälfte der damaligen Bevölkerungszahl. Und Deutschland trieb den Jugoslawienkrieg voran. Er ist die zweite große Katastrophe nach dem Holocaust für diese größte europäische Minderheit. Unter den Augen der Nato-Schutztruppen wurden über 100 000 Roma aus dem Kosovo vertrieben. Unzählige starben.
Nun will die Bundesregierung 10 000 Roma in den Kosovo zurückschicken, obwohl laut dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR ihr Leben dort immer noch bedroht ist, ihre Häuser zerstört sind und sie im mittlerweile ärmsten Land Europas keinerlei Überlebensperspektive haben.
„lieber sterben“ ist ein Stück für Asyl. Die Roma-Familie steht stellvertretend für weltweit über 100 Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat vor Krieg, Rassismus, religiösem Wahn, Umweltkatastrophen, sexueller Ausbeutung oder schlicht aufgrund blanken Hungers fliehen. Doch trotz ihres Leids werden sie als „Wirtschaftsflüchtlinge“, gar als „Schmarotzer unserer Sozialsysteme“ diffamiert. Dass unser Reichtum aber nicht zum kleinsten Teil auf dem Elend der Ärmsten beruht, wird dabei geflissentlich übersehen.
Kritik
Gotthold Streitberger, BI-Asyl Regensburg
Flüchtlingsschicksale bewegen und berühren mich stark. Wenn ich dann weiter denke über Ursachen und Verantwortliche, wenn ich also nachdenke über Regierungen, Behörden, Ämter und von ihnen erlassene und durchgeführte Gesetze und Verordnungen, dann empfinde ich große Scham, Empörung und Wut.
Solche Empfindungen hat die Darstellung des Stückes "lieber sterben" in mir ausgelöst. In bewegender Weise wird das – vom Bayerischen Flüchtlingsrat recherchierte und veröffentlichte – Schicksal der Romafamilie Avdija mit einfachen Mitteln szenisch dargestellt, aus Sicht und in Tagebuchform der kleinen Tochter Lumturje (in der Lesung "Enisa"), untermalt mit Bildern und Instrumentalmusik und ergänzt durch fundiert recherchierte unliebsame Wahrheiten zum völkerrechtswidrigen Nato-Bombardement gegen Serbien und im Kosovo, zum Roma-Holocaust, zum Krieg der Herrschenden gegen Flüchtlinge mit Mitteln von - unter anderem - Frontex, Dublin II, Lagern, Abschiebung... Solange all dies den Träumen von Lumturje entgegensteht, solange werden wir uns für ihre Träume, die auch meine sind, engagieren.
Ich wünsche dem Stück möglichst viel publicity und Resonanz und möchte dazu das mir mögliche beitragen.
Marion Puhle, Regensburger Flüchtlingsforum (RFF)
Das Stück "lieber sterben" hat mich sehr bewegt und bestärkt mich darin, meine Flüchtlingsarbeit für die Schwächsten in unserer Gesellschaft fortzusetzen.
Abschiebungen sind menschenverachtend, weil sie gegen den Willen des Menschen passieren. Die Welt muss endlich begreifen, dass wir eine Welt sind und jede/r Mensch das Recht hat, dort zu leben, wo er/sie das auch immer will.
Vor Hunger, Krieg, politischer Verfolgung, Folter und andere Abscheulichkeiten dürfen wir die Augen nicht verschließen.
Die Menschen die zu uns kommen, wollen ein Leben in Würde, wollen arbeiten, wollen respektiert werden, wollen einfach leben. Diesen Minimalforderungen schließe ich mich gerne an, denn die Forderungen der Flüchtlinge, sind auch meine.
Wenn der AK Asyl AI, BI Asyl und RFF dazu beitragen konnten, Menschen aufzurütteln, dann ist schon viel erreicht.
Für weitere Aufführungen, solltet ihr euch dazu entscheiden, steht das RFF selbstverständlich euch mit Rat und Tat zur Seite.
Dokumentation
Textauszüge
Lager
SPRECHER:
Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen packt jedes Jahr den Schrecken in Zahlen. 2008 meldete es 42 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 26 Millionen Vertriebene im eigenen Land. 2,8 Millionen flohen allein aus Afghanistan, 1,9 aus dem Irak, ja, aus genau den Ländern, die der Westen aktuell mit Frieden, Recht und Freiheit überzieht. Zuvor führte Jugoslawien die Liste an.
Doch diese Statistik erfaßt nur die Schutzflehenden, die Krieg, Rassismus, religiösem Wahn und Diktaturen entfliehen. Menschen flüchten aber auch, weil Hunger und Katastrophen ihr Leben zerstören. Bei uns gerne „Wirtschaftsflüchtlinge“ genannt. Auf 50 bis 150 Millionen wird deren Zahl geschätzt.
Reihen wir die Daten aneinander, so sind auf unserem Planeten wenigstens 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Und bedenkt, Grund zum Fliehen hätten noch soviele mehr: Eine Milliarde Menschen hungert, 30 000 von ihnen sterben jeden Tag. Aber diese Hungernden sind zum Entkommen schon zu schwach.
Glück gehabt! Denn sie hätten alles Recht zu kommen. Wir fischen ihre Meere leer, wir rauben ihre Bodenschätze, wir beuten ihre Arbeit aus, wir stehlen ihre Früchte, wir, der reiche Teil der Welt, sind der Grund ihres Unglücks, seit hunderten von Jahren. Wir leben von den Armen, nicht umgekehrt.
Doch über 80 Prozent aller Flüchtlinge werden von den armen und ärmsten Ländern aufgenommen. Manch kleines Entwicklungsland gewährt mehr Menschen Asyl als ganz Europa. Und noch ein beschämender Wert: Zwei von drei Flüchtlingen sind Frauen und Kinder.
In seltenen Fällen aber nur führt eine Flucht in die Freiheit. Auf Flüchtlinge wartet das Lager. Lager sind Orte, an denen Menschen gesammelt werden, die man nicht haben will. Auch nicht im Lager. Darum werden die Lager so gehalten, daß freiwillig kein Mensch darin leben würde, denn man lebt nicht in Lagern, man vegetiert. Ein Lager ist ein abgestecktes Feld ohne Zukunft. Das ist seine eigentliche Drohung. Wer es aber schafft, ein Lager zu verlassen, landet oft genug nur im nächsten, denn die Probleme der Welt werden nicht gelöst, sie werden ausgelagert.
ENISA:
Liebe Tinka,
ich komme erst heute wieder zum Schreiben. Die letzten Wochen waren sehr schlimm. Sie haben uns eine kleine Baracke gegeben, nur aus Brettern und Wellblech. Wir leben jetzt alle in einem kleinem Zimmer und schlafen auf dem Boden. Wasser gibt es nur an einer Stelle im Lager und auch immer nur für kurze Zeit am Tag. Dann kommen alle Leute und waschen ihre Wäsche. Die meisten Kinder laufen barfuß herum und es ist alles furchtbar schmutzig und es stinkt. Wenn es trocken ist, wirbelt der Wind den Staub auf, daß man fast gar nichts mehr sehen kann.
Die Soldaten haben gesagt, wir können bald wieder zurück, aber andere sind schon viele Jahre hier. Sie glauben den Soldaten nichts mehr. Um unser Lager ist Stacheldraht und wenn jemand raus will, muß er die fremden Soldaten fragen. Die gehen dann dahin mit, wo man hinmuß, aber nur, wenn sie Zeit haben.
Gleich neben unserer Hütte geht eine Eisenbahn vorbei. Papa schaut den Zügen oft nach und erklärt uns manchmal, was das für eine Lokomotive ist und dann erzählt er uns von seiner Arbeit früher und wie toll es immer mit seinen Kollegen war. Mama geht dann meist weg, weil sie das nicht hören kann. Jetzt bin ich schon fast ein halbes Jahr nicht mehr in der Schule gewesen. Wenn ich dich nicht hätte, würde ich vielleicht gar nicht mehr schreiben können.
Eigentlich dürfen wir gar nicht traurig sein. In anderen Familien sind fast immer Leute gestorben. Durch die Bomben oder durch die Männer mit den Masken. Wenn ich manchmal daran denke, daß Papa oder Mama oder meine Brüder oder Feride nicht mehr da sind, möchte ich gar nicht mehr leben. Aber vielleicht leben wir eh nicht mehr lange. Das Land, auf dem wir jetzt sind, ist nämlich vergiftet. Früher war da einmal ein Bergwerk und da haben sie nach Blei gegraben und das Blei liegt immer noch herum. Papa hat ganz furchtbar geschimpft und Faruk hat gesagt, den Platz, den keiner haben will, den geben sie uns. Wir trinken jetzt gekauftes Mineralwasser, und wenn es sehr staubt, darf ich nicht mehr hinaus. Einige erzählen, daß schon Kinder gestorben sind. Erst werden sie gelb und dann sind sie tot.
Liebe Tinka,
ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, weil es so schrecklich ist. Heute sind Leute aus unserer Straße ins Lager gekommen, die letzten, die noch dort waren. Und sie haben gesagt, daß unser Haus nicht mehr steht. Jemand hat es in die Luft gesprengt. Es ist gar nichts mehr da, nur noch Steine und Dreck. Jetzt können wir nicht mehr zurück.
Liebe Tinka,
Mama und Papa haben ganz lange miteinander geredet und dann haben sie uns gesagt, daß wir weggehen, nach Norwegen, weil wir da Verwandte haben. Ich weiß überhaupt nicht wo Norwegen ist, aber Papa hat gesagt, da gibt es keinen Krieg und da werden Menschen nicht geschlagen, weil sie so sind wie wir. Und ich kann da auch wieder zur Schule gehen und Faruk und Yassin können einen Beruf lernen. Feride hat gesagt, sie möchte auch einen Beruf lernen und dann sind wir ganz lustig geworden, weil Feride dauernd Berufe eingefallen sind, was sie machen möchte, Bäckerin mit weißer Schürze oder Lehrerin oder Schneiderin nur für Hochzeitskleider und sie hat die Sachen vorgespielt, die sie machen möchte. Sogar Mama hat gelacht. Ich glaube, in Norwegen wird es uns wieder gut gehen.
Deutschland
SPRECHER:
800 000 Deutsche fanden vor den Nazis im Ausland Asyl. Unter ihnen auch Mitglieder des Parlamentarischen Rates, der 1949 das Grundgesetz entwarf. In diesem stand herrlich und klar zu lesen: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Ohne Wenn und Fallstricke. Aus der Geschichte lernen, nennt man das. In manchen Jahren wurden über 90 Prozent der Asylanträge anerkannt. 90 Prozent! Willkommen! Willkommen, ihr Bedrängten dieser Welt!
Doch diese herzerwärmende Menschlichkeit entpuppte sich bald als kalt kalkulierte Politik. Die Fliehenden kamen nämlich zunächst aus der Zweiten Welt, aus dem Osten, und man bediente sich ihrer und des Asylrechts, um den bösen Kommunismus zu schmähen.
In den Achtzigern aber, als mehr und mehr Menschen aus der Dritten Welt Zuflucht erbaten, spuckte es plötzlich andere Töne: Asylmißbrauch! Scheinasylanten! Wirtschaftsflüchtlinge! Ab mit euch ins Lager!
Und der häßliche Deutsche zeigte wieder seine Fratze: „Die Buschtrommeln werden in Afrika signalisieren – kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müßt ihr ins Lager“, trommelte Lothar Späth zur Eröffnung des ersten Flüchtlingslagers in seinem Ländle. Edmund Stoiber warnte nicht weniger wortgewandt vor einer „multinationalen Gesellschaft auf deutschem Boden, durchmischt und durchraßt.“ Deutschland den Deutschen, das ist wahre deutsche Kultur.
Jetzt ging es Schlag auf Schlag: 1991 Schwandorf, erster fremdenfeindlicher Brandanschlag in Deutschland, vier Tote. Im gleichen Jahr Hoyerswerda. 1992 Mölln und Rostock-Lichtenhagen. 1993 Solingen. Und 1993: Abschaffung des Asylrechts.
Fein haben sich das die Herren und Damen Volksvertreter ausgedacht. Artikel 16 a Absatz 1: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Aber Absatz 2: „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft (…) einreist“. Klingelt‘s? Frankreich, Österreich, Italien, Tschechien, Polen, Benelux, Dänemark – Deutschland ist lückenlos umgeben von Mitgliedsstaaten! Ist das nicht perfide? Ist das nicht perfekt obszön? Nicht mehr der Fluchtgrund bestimmt über Asyl, nur noch der Weg! Aber einen Weg gibt es nicht!
Außer fliegen. Doch auch hier war man fix: Flughafenverfahren. Kurzer Asylcheck und der Grenzschutz schiebt postwendend zurück. Tschüß, schön, daß ihr hier wart und auf Nimmerwiedersehen!
So wundert es kaum, daß Deutschland im Jahre 2008 nur noch ganzen 233 Flüchtlingen offiziell Asylrecht zusprach. 233 von geschätzten 100 Millionen!
Doch die Geschichte geht noch weiter, denn Asyl heißt in Deutschland Asyl auf Zeit. Nach spätestens drei Jahren prüft die Behörde neu, ob ihrer Ansicht nach ein Fluchtgrund noch vorliegt. Und so kommt es, daß im Jahr der 233 Anerkennungen 2007 Menschen die Anerkennung wieder entzogen wurde. 233 minus 2007 macht?
Artikel 16 a Grundgesetz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ist mittlerweile ein Ausländer-raus-Gesetz. Bravo Deutschland!
Aber es gibt auch noch das sogenannte „kleine Asyl“, Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Hier stehen rund 7000 positiven Bescheiden etwa 4000 Widerrufe gegenüber, unterm Strich immerhin 3000 Menschen, die ein kleines Stückchen Sicherheit fanden.
Und schließlich sind die sogenannten „Geduldeten“ zu nennen. Ihr Asylantrag wurde zwar endgültig abgelehnt, aber der deutsche Staat schafft es trotzdem nicht, sie loszuwerden. Sei es, weil es keine Flugverbindung gibt, da in dem betreffenden Land gerade ein Bürgerkrieg tobt – der Bürgerkrieg selbst ist selten als Asylgrund ausreichend –, sei es, weil das Heimatland keinen Paß ausstellt. Aber eine Duldung gilt immer nur für wenige Monate, manchmal sogar nur Tage oder Wochen. Jeder Gang aufs Amt gleicht einem Gang durch die Hölle, da statt einer Verlängerung die sofortige Abschiebung drohen kann. 60 000 Menschen leben so, von Jahr zu Jahr, ohne Perspektive, in ständiger Angst.
Vor sechzig Jahren wurde das Grundgesetz verkündet. Seine menschenfreundlichen Anteile sind heute gründlich vergessen.
ENISA:
Liebe Tinka,
ich bin richtig wütend. Wir sind schon wieder eingesperrt! Ein Lastwagenfahrer hat uns mitgenommen. Papa hat ihm fast unser ganzes Geld gegeben und er hat uns zwischen Kartons versteckt. Aber auf einem Parkplatz in Deutschland hat er uns einfach rausgeworfen, obwohl viel weiter ausgemacht war. Und da hat uns die Polizei der Deutschen gefunden und einfach mitgenommen. Und wir wurden wie in Lublijana fotografiert und allen außer Yassin und mir hat man die Finger blau angemalt und auf Papier gedrückt. Faruk hat gesagt, das macht man normalerweise nur mit Verbrechern. Und ein Mann hinter einem Schreibtisch hat immer auf uns eingeredet. Aber wir haben nichts verstanden. Und dann hat man uns hierher gebracht, wieder in ein Lager. Warum dürfen die das mit uns tun?
Liebe Tinka,
langsam bekomme ich Übung. Ich weiß jetzt schon, wie das läuft in einem Lager. Auch hier in Deutschland haben wir nichts Eigenes. Alle sind wir in einem kleinen Zimmer mit Hochbetten. Immerhin gibt es hier eine Küche und keine Kantine wie vorher, aber die Küche ist für fünf Familien und es gehen nur zwei Kochplatten von vier. Außerdem kriegen wir so Eßpakete mit Sachen drin, die wir gar nicht kennen. Manches ist auch nicht mehr gut und schimmelt schon. Und es gibt nur ein Clo und ein Bad für alle. Daß es da nicht immer sauber ist, kannst du dir denken. Um das Lager herum ist ein Stacheldrahtzaun und Überwachungskameras. Und am Eingang ist ein Drehkreuz, damit nur einer gleichzeitig durchkann. Sie sagen, das ist für unseren Schutz, weil es hier viele Deutsche gibt, die Flüchtlinge nicht mögen. Ja, liebe Tinka, irgendwie scheint es so zu sein, daß uns keiner mag auf der Welt.
Liebe Tinka,
es steht gar nicht gut um uns. Sie wollen uns wieder nach Slowenien zurückschicken. Sie sagen, man darf nur einmal Asyl beantragen und da muß man wieder in das Land zurück, wo man das zuerst gemacht hat. Aber wir waren doch da nicht sicher, darum sind wir ja weg! Und außerdem wollen wir doch nach Norwegen!
Liebe Tinka,
Mama ist nicht da! Meine Mama! Weil sie immer kränker geworden ist vor lauter Sorgen und ständig umgefallen ist, da haben sie sie in ein Krankenhaus gebracht und wir dürfen sie nicht einmal besuchen! Papa hat mir das Wort aufgeschrieben: „Residenzpflicht“, und er hat gesagt, Residenz heißt Palast. Die Deutschen meinen aber unser Lager damit und daß wir da nicht wegdürfen. Zum ersten Mal sind wir nicht alle zusammen. Papa sagt, die helfen Mama, aber ich habe Angst.
Liebe Tinka,
Mama ist wieder da! Jetzt bin ich nicht mehr so traurig. Sie ist zwar immer noch sehr krank, aber mehr Krankenhaus bezahlen sie für Flüchtlinge nicht, hat jemand gesagt, der übersetzen kann. Das ist den Deutschen zu teuer. Sie zahlen nur, wenn es ganz ganz weh tut. Aber ich bin so froh, daß ich meine Mama wieder habe!
Liebe Tinka,
heute haben die Deutschen Papa eingesperrt! Meinen Papa, der doch noch nie irgendetwas Böses getan hat! Der immer allen hilft! Sie haben ihm Handschellen angelegt wie einem Verbrecher und einfach weggebracht! Mama hat so geweint und geschrien, aber die haben es einfach getan. Und dann hat der Übersetzer gesagt, das sei, damit wir nicht weglaufen, weil wir in einer Woche zurück müssen. Mit dem Flieger. Mein Papa!
Liebe Tinka,
ich bin so traurig, daß ich nur weinen kann. Jetzt ist auch Mama weg! Wir sind ganz allein. Und es war so schlimm. Mama war die ganze Zeit ganz furchtbar aufgeregt. Wir haben sie alle gehalten und gesagt, daß alles gut wird. Aber dann hat Mama ganz laut nach Papa geschrien und ist zum Fenster gelaufen, weil sie zu Papa wollte und unser Zimmer ist doch ganz oben! Und sie wollte wirklich hinausspringen! Und Feride und Faruk haben sie festgehalten und Mama hat sie deswegen richtig geschlagen, damit sie frei kommt. Und dann sind andere Flüchtlinge gekommen und haben Mama gepackt, damit sie nicht springt. Wenn die nicht gekommen wären, hätte ich jetzt keine Mama mehr! Und dann haben sie Mama wieder ins Krankenhaus gebracht. Papa ist im Gefängnis, Mama im Krankenhaus. Was soll nur werden? Liebe Tinka, ich möchte wieder nach Hause, da waren wir wenigstens alle zusammen.
Liebe Tinka,
wir sind jetzt in einem anderen Haus. Sie haben gesagt, Kinder ohne Eltern müssen dahin. Feride durfte mit Mama telefonieren. Als Mama gehört hat, daß wir jetzt woanders sind, hat sie sich ganz furchtbar aufgeregt, weil sie geglaubt hat, wir werden ihr weggenommen und ins Heim gesteckt. Ich glaube, ich kann bald nicht mehr schreiben.
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Szenenbilder
Fotos: Herbert Baumgärtner