Tagebuchauszüge

20. Mai 1927

Heute werden es schon 8 Wochen, daß mein liebstes Mütterlein von uns gegangen. Die Zeit schreitet unentwegt dahin - über Freud und Leid, über all die großen Erschütterungen, die nur wenige Male ins Leben geraten, wie über die tausenderlei Alltäglichkeiten, die das Dasein zusammensetzen - hinweg. So werden auch Jahre vorübergehen u. ich werde nur noch wissen, daß ich eine gute Mutter gehabt habe. Daß sie nicht mehr um mein Leben wissen und fragen kann - ist unfaßlich, daß sie nicht mehr erleben darf, wenns mir noch einmal gut gehen sollte - ist bitterer Schmerz. Ich mache mir jetzt große Vorwürfe, daß ich ihr nicht mehr gedient, daß ich meinen Egoismus trotz allem Mitversorgens und Miterlebens so üppig ins Kraut schießen ließ. Dieses ewige, dieses unselige Nichtmitsichselbstfertigwerden. Ach u. wenn ich glaubte - es zu werden, dann schössen die Gedanken doch wieder in der Richtung der ureigensten Lebensbildung, dann will man sich geistig u. persönlich bilden und so vieles nachholen - aber nichts tun im reineren Dienst an angehörenden Menschen, von denen man keine wesentliche Förderung erwartet u. von denen man gewöhnt ist, daß sie für einen da sind. Verzicht auf eigenes, Opfer um eines anderen willen, der nicht im Brennpunkt des eigenen Lebens steht, das ist es, was ich nie gelernt u. was man auch nie von mir gefordert. So war ich den grausamsten Entäußerungen dem anderen gegenüber fähig. Der Verlust meiner teuren Mutter hat mir einige Selbstbesinnung gebracht. Ich wünschte, sie möchte elementarer sein.

Doch bin ich jetzt gezwungen mich mehr um Häusliches zu kümmern und zu sorgen. Körperl. Arbeit ist mir Erholung und Gesundung. Mit fanatischem Eifer stürzte ich mich in die Näherei "in den Osterferien. In welcher Welt lebe ich denn noch immer? Ich kenne es nicht, was dem natürlichen Menschen selbstverständlich ist - sinnenfällige Daseinsform und Lebensgestaltung. Ich bin noch immer ein Fremdling unter meinen Kindern und im tgl. Leben. Aber es wird besser - ich weiß es. Langsam u. stetig werden die daseinsunberechtigten Zellen der alten Struktur durch neue, lebenskräftige ersetzt. Die Zeit macht keine Sprünge. Die furchtbare Last muß sich allmählich von der Seele lösen - u. wenn inzwischen auch der Tod herankommt. Im ersten und zweiten Seminar damals - mit 18-19 Jhr. - da war das erste furchtbare Krümmen der geknechteten Seele. All die Jahre vorher- das waren nur Schatten, die ins Unterbewußtsein schlugen u. die wehtaten, mit denen man aber als mit etwas Gegebenem rechnete.

13. September 1927

Es zieht mich hin zum Modernen, Großstädtischen, Lebensrealen u. -heiteren u. doch bin ich im Herzen so namenlos leer u. unbefriedigt. Das Leben scheint mir sinnlos, wenn kein Inhalt es füllt. Wo diesen suchen? Ich habe in den Sommermonaten eine vollständige innere Umstellung erfahren. Irene mit ihren umstürzlerischen Ideen hat mir Ungeheures gegeben u. ich habe alte Formen zerbrochen. Meinen Glauben, meinen persönlichen Gott, den ich trotz meiner freien, außerkirchlichen Anschauungen doch immer zutiefst u. heimlichst in mir getragen, habe ich von mir gegeben. U. ich habe es bewußt und mit voller Überzeugung getan, weil ich alle Schäden gesehen und erkannt habe, die der anerzogene Glaube mir unwiederbringlich geschlagen und es an Tausenden immer noch tut. Meine schönsten Jugendjahre, die ich in jenem [ein Ort, wohl Stachmitz] verloren, standen unter diesen Zeichen, die ganzen späteren kraftlosen Lebensjahre versäumte man mit diesem Hoffen und Trauen auf die führende göttliche Hand, statt daß man der Wirklichkeit in die Augen geschaut und nach seinem natürlichen Gefühl gehandelt hätte. Immer dieses Rechnen und Gewissen mit angenommenen Dingen, immer diese feige Flucht vor den Wirklichkeiten, dieses sichvertrösten auf Besseres, wofür doch keine Gewähr ist. Und all die falschen Moral- u. Gesellschaftsbegriffe, alles Alte habe ich in mir gestürzt. Die Ehe ist mir nicht mehr das Erstrebenswerte, die Familie ist mir 'mehr die Stätte des Egoismus u. vieler Lebenshemmungen als die Quelle der Erholung und des Fortschritts. Ich fühlte mich frei u. erleichtert, als ich all den alten Ballast von mir geworfen u. ein ungeheurer innerer Aufschwung war die Folge (habe ich je schönere Tage verlebt als die ersten Tage meiner Dalmatienreise?) Aber nun weiß ich nicht, wohin fassen, wohin mich halten - es fehlt mir noch der Ersatz für das Alte u. ich sehe die gefährliche Klippe, an der wohl Tausende straucheln, die diese Wandlung durchmachen. Der Mensch ist die höchste Souveränität, die es gibt, aber den Weg zu seinem Ziele finden, das ist das ungeheure Problem.

Gut werden - das ist u. bleibt das Einzige u. Letzte - aber das Gute zur Erkenntnis bringen u. tun - das ist es. U. wären sich alle in dem einen Willen einig, es gäbe doch stets ein Fluten u. Stürmen gegeneinander, weil Täuschung und Irrung nie aufhören werden. Der Weisheit letzter Schluß ist die milde u. die unversiegbare Liebe.

12. Februar 1928

Alles Geschehen geht seinen Weg u. ich mache unterdessen weiter mit dem Leben nach bestem Wissen u. Vermögen. Doch sind diese beiden Dinge bei mir so winzige Flämmlein, daß ich oft fürchte, sie könnten erlöschen. All mein Wissen und Können scheint oft wie zugeschraubt u. mit den entsetzlichsten Anstrengungen vermag ich doch nicht das Geringste. Unter diesen Umständen lastet mir die Schule zentnerschwer auf Geist u. Gemüt u. obwohl ich mir dutzendmal sage, es ist doch so einfach, so kann ich mir doch nicht helfen. Es ist, als ob ich die menschliche Ohnmacht in ihren tiefsten Abgründen durchkosten sollte. Dann erkenne ich wieder die Notwendigkeit dieser Marterschule, denn immer noch brüstet sich der Moloch Ich in unverschämter Frechheit. U. es soll doch alles menschliche Streben zu Liebe für das andere werden.

22. Februar 1928

Wir haben in unseren jetzigen Schulen keinen Erziehungsinhalt, kein Ziel mehr (s. neuer Lehrplan, ein Verlegenheitsprodukt). Unsere Lehrerschaft macht keinen guten Eindruck, sollte sich mehr auf sich besinnen, statt so viel Standesfragen u. -Begriffe und -Dinge in den Vordergrund zu schieben.

9. Oktober 1928

Der Funke hat endlich gezündet. Eine neue Welt hat sich mir aufgetan. Endlich - endlich hab ich meinen Weg gefunden. Was ich Zeit meines Lebens gesucht u. mit heißen Schmerzen ersehnt - endlich seh ich es vor mir. Wie ein Sturm ist die Erkenntnis in mich gefahren u. nun wütet es in mir wie eine neue Gottheit. Ich bin voll Glück u. Schmerz zugleich. Glücklich, weil ich nicht mehr die jammervolle Qual des halben Lebens in mir trage - voll Jammer, weil ich das unsägliche Elend der bedrückten Menschheit vor mir sehe und in mir leide. Ich sehe alle Tage dutzendmal, wie gut die Menschen sind, wie leicht und einfach das Leben - wie selbstverständlich alles - u. zugleich sind diese armen Menschen so jammervoll verirrt, so gräßlich irregeleitet. Gebt den Menschen ihre Rechte u. sie werden alle gut sein. Nun fällt mir alles leicht u. alles versteht sich von selbst u. alle Kräfte stellen sich ein, seit ich den Urquell des Lebens erkannt habe und den Weg des Menschenrechts gehe.

12. November 1928

Ein Monat später. Ich will nicht u. darf nicht nachgeben. Wie ein Naturgesetz, wie ein Verhängnis ist dieser Ablauf in mir, dieser kurze, stürmende Höhepunkt u. dann dieser permanente Tiefpunkt. Schon schleicht dieses Eingeständnis wieder zum Bewußtsein - aber nein - ich will diesmal nicht. Jeden Tag will ich mich nun neu aufraffen u. überwinden. Wenn ich nachgebe, bin ich verloren. Es ging doch auch in den Ferien, weil ich wollte - weil ich mir sagte, es muß diesmal was herauskommen. U. weil ich mir eine Waffe schmiedete, die half: denke nicht daran, was du nicht kannst, sondern tue das Gegenwärtige - ohne Scheu u. wenn alles die Köpfe schüttelt.

16. November 1928

Karl schrieb mir in seiner trockenhumorvollen Art, aus der Sturm- u. Drangzeit sei ich wohl trotz meines hohen Alters noch nicht herausgekommen. Ich glaube selbst, daß meine Begeisterungsausbrüche diesen Eindruck erwecken. [... ] Ja, ich muß immer erkennen, wie sehr ich noch im Anfang stehe. Ich habe diese Dinge nie durchdacht, nie ein groß. Werk durchgearbeitet, bin daher überhaupt nicht geschult. Es hat mich eben noch nie etwas intensiv interessiert - das wußte ich auch u. darum war ich unglücklich. Unklar hat es mich immer wohin getrieben, aber ich konnte den Weg nicht finden.

14. Juli 1929

Es waren seltsame Tage in den kalten Märztagen in Aumont - dem Dichterasyl, so einfache, umhegt von den Narzissenwäldern - so seltsam nah u. traurig, so entsagend u. voll Sehnsucht. Irene mit dem Märtyrerkranz ihrer dornenvollen Liebe, für mich ein ungewohntes Aufgeben meiner Instinkte, ein ungekanntes, zwangsvolles Aufgehen im ändern. »Du mußt den Sprung über den Abgrund wagen« Mit diesen Worten kehrte ich zurück u. ich versuchte dann zum 1. Male in meinem Leben - das, was andere immer konnten - selbstlose Kleinarbeit zu tun - einfach sich zu geben in Geduld im Kleinen. Meine Schulkinder waren die Versuchskaninchen. U. dieses Überwinden seiner selbst - dieser Schnitt ins eigene Fleisch - wurde die Erlösung - eine andere Erlösung - als ich sie bisher immer geübt hatte. Auch darauf - auf diese äußerliche Art des Verfahrens - hatte mich Irene aufmerksam gemacht.

Seitdem bin ich frei - so herrlich frei - daß ich wie auf einem Gipfel unter mir das sonnige Land des Lebens erblicke.

(zitiert nach Jürgen Schröder "Horváths Lehrerin von Regensburg - Der Fall Elly Maldaque", 1982)